
Warum so viele Frauen seltener zum Orgasmus kommen – und wie wir das ändern können
Du liegst neben deinem Partner, das Herz schlägt noch schnell, er lächelt zufrieden – und du? Du lächelst zurück, obwohl du innerlich denkst: Irgendwas fehlt. Nicht, weil du nicht „kannst“ oder „falsch“ empfindest, sondern weil das Drehbuch, nach dem euer Sex abläuft, einfach nicht auf dich zugeschnitten ist.
Willkommen im Gender Orgasm Gap – einer Lücke, die seit Jahrzehnten bekannt ist und trotzdem hartnäckig bestehen bleibt.
Studien zeigen: In heterosexuellen Begegnungen erleben Männer im Schnitt 30 % häufiger einen Orgasmus als Frauen. Seit den 1960ern wird geforscht, diskutiert, empfohlen – und doch ist diese Differenz heute noch genauso gross wie damals.
Die Anatomie der Lust – und der Mythos vom „richtigen“ Orgasmus
Dass es bei Frauen den einen „wahren“ Orgasmus gibt – den vaginalen –, war eine von Freuds berüchtigten Thesen. Und auch wenn diese längst wissenschaftlich widerlegt ist, schwebt sie immer noch wie ein leiser Schatten über unserer Sexualkultur. Fakt ist: Fast jeder Orgasmus einer Frau ist klitoral mitbedingt. Egal ob er bei Penetration, oraler Stimulation oder Masturbation entsteht.
Das Problem: In unserem gängigen Verständnis von Sex (verstärkt durch Pornografie, Medien und tradierte Rollenbilder) ist Penis-in-Vagina die Hauptsache – alles andere gilt als „Vorspiel“. Dabei ist gerade die gezielte Stimulation der Klitoris oft der Schlüssel zum Höhepunkt.
Warum die Lücke bestehen bleibt
Es ist nicht so, dass Frauen „schwieriger“ zum Orgasmus kommen. Beim gleichgeschlechtlichen Sex oder bei der Selbstbefriedigung erreichen sie ihn genauso zuverlässig wie Männer. Das Problem liegt vielmehr im Setting:
- Zu wenig klitorale Stimulation beim heterosexuellen Sex
- Unterschiedliche Erregungskurven – Frauen brauchen im Schnitt etwa 20 Minuten, Männer oft nur wenige
- Tief verankerte Geschlechterrollen – der männliche Orgasmus gilt als selbstverständlich, der weibliche als „nice to have“
- Scham und gesellschaftliche Tabus rund um Lust, Sexspielzeug und „abweichende“ Praktiken
Diese Mischung führt dazu, dass Frauen ihre Bedürfnisse oft nicht einfordern – und Männer sie nicht automatisch einbeziehen.
Praktische Tipps für Paare
1. Sexuelle Interaktion neu gestalten
Klitoris-Stimulation integrieren:
- Während der Penetration kann die Frau oder der Partner die Klitoris mit Fingern stimulieren
- Stellungen wählen, bei denen mehr Druck auf die Klitoris ausgeübt wird (z.B. Frau oben, damit sie Bewegung und Druck selbst kontrollieren kann)
- Vibratoren oder andere Toys während des Sex einsetzen – das ist keine “Krücke”, sondern eine sinnvolle Ergänzung
Zeit anders einteilen:
- Den Fokus weg von “Vorspiel + Hauptakt” hin zu verschiedenen gleichwertigen Aktivitäten verschieben
- Orale Stimulation nicht als optionales Vorspiel, sondern als zentralen Teil der sexuellen Begegnung verstehen
- Sich bewusst 20+ Minuten Zeit nehmen, nicht nach dem männlichen Orgasmus aufhören
2. Persönliche Verantwortung übernehmen
Für Frauen:
- Den eigenen Körper durch Masturbation erkunden und herausfinden, was funktioniert
- Diese Erkenntnisse aktiv in die Paarsexualität einbringen
- Den eigenen Orgasmus als wichtig und erstrebenswert betrachten, nicht als “Bonus”
- Konkret sagen: “Ich brauche noch mehr Zeit” oder “Kannst du mich hier berühren?”
Für Männer:
- Aktiv nachfragen, was die Partnerin braucht
- Geduld entwickeln und nicht davon ausgehen, dass der eigene Orgasmus das Ende markiert
- Verschiedene Stimulationsformen als gleichwertig zum penetrativen Sex betrachten
3. Kommunikation verbessern
Konkrete Gesprächsansätze:
- Ausserhalb des Schlafzimmers über Wünsche sprechen, wenn beide entspannt sind
- Spezifisch werden: Statt “es war gut” sagen “die Berührung an X war besonders schön”
- Positive Verstärkung nutzen: Sagen, was gut funktioniert hat
- Gemeinsam erkunden: “Lass uns mal X ausprobieren”
4. Gesellschaftliche Prägungen hinterfragen
Mythen entlarven:
- Akzeptieren, dass Penetration allein für die meisten Frauen nicht zum Orgasmus führt – das ist normal, nicht “dysfunktional”
- Verstehen, dass die Unterscheidung zwischen “vaginalem” und “klitoralem” Orgasmus überholt ist
- Sexspielzeuge als normale Hilfsmittel betrachten, nicht als Zeichen von Versagen
Neue Skripte schreiben:
- Sex neu definieren als alle Aktivitäten, die beiden Lust bereiten
- Beide Orgasmen als gleichwertig wichtig betrachten
- Flexibilität in der Reihenfolge: Warum nicht erst sie, dann er?
5. Praktische Übungen
Für Einzelpersonen:
- Beckenbodentraining für bessere Körperwahrnehmung
- Achtsamkeitsübungen während der Selbstbefriedigung
- Aufschreiben, was funktioniert und was nicht
Für Paare:
- “Sensate Focus”-Übungen: Sich gegenseitig ohne Orgasmusdruck erkunden
- Rollenspiele: Einen Abend lang steht nur ihre Lust im Mittelpunkt
- Feedback-Runden: Nach dem Sex kurz besprechen, was besonders gut war
Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist
Ein Gespräch mit Sexolog*innen kann helfen bei:
- Anhaltender Frustration trotz Kommunikationsversuchen
- Schamgefühlen, die Kommunikation blockieren
- Unterschiedlichen Bedürfnissen, die zu Konflikten führen
- Wenn biologische Faktoren (Menopause, Medikamente) eine Rolle spielen könnten
Der wichtigste Punkt: Diese Veränderungen brauchen Zeit und Geduld. Es geht nicht darum, perfekte “Performance” zu liefern, sondern gemeinsam herauszufinden, was für beide funktioniert.
Orgasm Equality – gleiche Chancen für Lust
„Orgasm Equality“ beschreibt eine Sexualität, in der beide Partner gleichermassen im Fokus stehen – und die Bedürfnisse beider ernst genommen werden. Das erfordert nicht nur neue Impulse im Schlafzimmer, sondern auch ein kulturelles Umdenken: weg von der männerzentrierten Vorstellung, hin zu einer vielfältigen, lustorientierten Sexualität, in der klitorale Stimulation, Variation und offene Kommunikation selbstverständlich sind.
Fazit: Der weibliche Orgasmus ist kein Nebenplot.
Der Gender Orgasm Gap ist kein individuelles Versagen – er ist ein Spiegel struktureller Ungleichheit. Ihn zu schliessen, bedeutet mehr als „nur“ besseren Sex: Es geht um Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und ein neues Verständnis von Sexualität.
Master Studentin MA7
Elvira Gübeli

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Disclaimer:
Dieser Artikel basiert auf einem Essay, das im Rahmen des ersten Semesters des Masters of Arts in Sexologie von einer Studentin verfasst wurde. Das vollständige Essay kann hier gelesen werden. Das Essay dient als Lernkontrolle nach dem ersten Semester und ermöglicht den Studierenden, ihr Wissen über die verschiedenen Aspekte der Sexualwissenschaft zu vertiefen und praktisch anzuwenden.